Zur Strafbarkeit der Beschneidung von männlichen Kindern werden in der deutschen
Rechtswissenschaft unterschiedliche Ansichten vertreten. Nach einer Meinung ist die reli-
giös motivierte Beschneidung schon als „sozialadäquates Verhalten“ nicht vom Straftat-
bestand der Körperverletzung erfasst. Der Eingriff sei zwar vom möglichen Wortlaut der
Körperverletzungsvorschriften, nicht aber von deren tatsächlichem Wortsinn erfasst (so
Exner, Sozialadäquanz im Strafrecht – Zur Knabenbeschneidung, 2011, S. 187 f.; ebenso
Rohe, Das islamische Recht, 2009, S. 342; Tröndle, StGB, 49. Auflage, 1997, § 223
Rn. 16a; ähnlich Schwarz, JZ 2008, 1125 <1127>). Diese Ansicht wurde noch 2008 in der
strafrechtlichen Kommentarliteratur als „wohl herrschende Meinung“ bezeichnet (vgl. Fi-
scher, StGB, 55. Auflage, 2008, § 223 Rn. 6b). Eine andere Ansicht bejaht zwar die Tat-
bestandsmäßigkeit, kommt aber ebenfalls zur Straflosigkeit, weil die Rechtswidrigkeit
nicht medizinisch indizierter Beschneidungen grundsätzlich dann entfalle, wenn die Einwil-
ligung der Eltern vorliege (Zähle, AöR 134 <2009>, 434 <451 f.>; Valerius, JA 2010, 481
<485>; Fateh-Moghadam, RW 2010, 115 <138>; Schramm, Ehe und Familie im Straf-
recht, 2011, S. 229; Beulke/Dießner, ZIS 2012, 338 <345>). Eine weitere Ansicht bejaht
dagegen die rechtswidrige Körperverletzung, weil die Beschneidung weder sozialadäquat
sei noch durch eine elterliche Einwilligung gerechtfertigt werden könne (Putzke, FS f.
Herzberg, 2008, S. 669 <682 ff.>; Jerouschek, NStZ 2008, 313; Herzberg, JZ 2009, 332,
<333 ff.>; Dettmeyer/Laux/Friedl/Zedler/Bratzke/Parzeller, ArchKrim 227 <2010>, 85
<96>).
Gerichte haben sich bisher nur vereinzelt mit der nicht medizinisch indizierten Beschnei-
dung von männlichen Kindern befasst. Abgesehen von der Entscheidung des LG Köln
vom 7. Mai 2012 (Aktenzeichen: 151 Ns 169/11; NJW 2012, 2128) findet sich dabei kein
Anhaltspunkt dafür, dass sie die Beschneidung als strafwürdiges Unrecht ansehen. - 14 - Bearbeitungsstand: 01.10.2012 15:00 Uhr
Strafgerichte haben sich abgesehen von dem Fall, der dem Urteil des LG Köln vom 7. Mai
2012 zugrunde lag, soweit ersichtlich, nie zuvor mit der Beschneidung männlicher Kinder
befasst. Das Urteil der ersten Instanz, das der Entscheidung des LG Köln voranging, hatte
eine Strafbarkeit noch verneint, weil jedenfalls eine wirksame rechtfertigende Einwilligung
der Eltern vorliege; dabei ließ das Gericht ausdrücklich dahingestellt, ob eine Strafbarkeit
nicht schon deshalb entfalle, weil die Beschneidung als sozialadäquates Verhalten bereits
vom Straftatbestand der Körperverletzung nicht erfasst sei (AG Köln, Urteil vom
21. September 2011, Aktenzeichen: 528 Ds 30/11).
Zivilgerichte haben sich vereinzelt mit Klagen auf Schmerzensgeld wegen fehlerhaft
durchgeführter Beschneidungen befasst. In einem Fall sprach das Gericht der elterlichen
Einwilligung zwar die rechtfertigende Wirkung ab, dies geschah aber, weil die Beschnei-
dung von einem Nicht-Mediziner unter unsterilen Bedingungen durchgeführt worden war.
Das Gericht ließ darüber hinaus aber nicht erkennen, dass es dem Grunde nach eine
Einwilligung der Eltern in eine von einem Arzt und nach den Regeln der ärztlichen Kunst
durchgeführte Beschneidung für unzulässig halte und diese keine rechtfertigende Wirkung
haben könnte. Dementsprechend nahm das Gericht bei der Bemessung des Schmer-
zensgeldes auch ausdrücklich kein Mitverschulden der Eltern an (LG Frankenthal, MedR
2005, 243). In einer anderen Schmerzensgeldsache konnte das Gericht offenlassen, ob
generell und bis zu welchem Alter die Einwilligung in eine Beschneidung durch muslimi-
sche Eltern oder durch einen muslimischen Vater allein als vom Erziehungs- und Sorge-
recht umfasst angesehen werden kann, weil im konkreten Fall der einwilligende Vater
nicht das Sorgerecht für das Kind innehatte (OLG Frankfurt, NJW 2007, 3580).
In einem sozialgerichtlichen Verfahren hat ein Gericht 1993 betont, dass mit der Be-
schneidung ein generelles religiöses Gebot des Islam erfüllt werde und „die allgemeine
familiäre und gesellschaftliche Bedeutung der Beschneidungsfeier im islamischen Kultur-
kreis […] mit der Bedeutung der Taufe im christlichen Bereich als mindestens gleich an-
gesehen werden (muss)“ (OVG Lüneburg, FEVS 44, S. 465 <467>). Das Gericht ging
daher dem Grunde nach von einer Pflicht zur Übernahme der Kosten für eine solche Feier
durch den Sozialhilfeträger aus. Das gleiche Gericht hat 2003 erneut betont, dass die Be-
schneidung „im muslimischen Kulturkreis eine der Taufe im christlichen Kulturkreis ver-
gleichbare religiöse und gesellschaftliche Bedeutung“ hat. Es hat einen Sozialhilfeträger
zur Übernahme der Kosten einer Beschneidung und der Kosten für die Ausrichtung der
zugehörigen Familienfeier verurteilt (OVG Lüneburg, NJW 2003, 3290).